GUTE GESCHICHTEN
Gute Geschichten.
Jeder, der halbwegs ernsthaft in den Koordinaten Marke, Kommunikation, Werbung, Content lebt und arbeitet, hat die folgende, großartige Geschichte schon mindesens einmal gehört, gelesen oder gesehen. Es geht um ‚storytelling at it’s best’. Also darum, was eine gute Geschichte - richtig erzählt - in Menschen auszulösen vermag.
Ich wurde heute früh durch einen Kunden mal wieder darauf aufmerksam gemacht, der so plötzlich wie unerwartet lichterloh brannte. Das war man bislang von dem Verhaltensstarren so gar nicht gewohnt, desto wichtiger war mir eine detaillierte Anamnese. Der Herr H. hatte ein kurzes Video eines dieser neuen Marketinggurus gesichtet, die derzeit alle sozialen Kanäle inflationär fluten. Darin erzählt der bewunderte Online-Experte eine biografische Geschichte aus dem Buch der Werbeikone David Ogilvy „on Marketing“ aus dem Jahr 1983 ohne Quellenangabe und peinlicherweise gerade so, als habe er sie selbst soeben erfunden:
>> Der berühmte Werbemann Ogilvy ist auf dem Weg zu seiner weltbekannten Agentur ‚Ogilvy & Mather‘ in Lower Manhattan. In Gedanken passiert er einen blinden Bettler, hält inne, kehrt um. Er bemerkt die wenigen Münzen in dessen Becher und liest die Botschaft: „Ich bin blind!“. Ogilvy denkt nach, blickt sinnierend in den Himmel, nimmt einen Stift aus seinen Taschen und schreibt auf das Schild des Bettelnden, dann geht er weiter.
Auf seinem Rückweg nach einem langen Arbeitstag trifft er abends auf einen freudestrahlenden blinden Mann, die Taschen voller Kleingeld. Dieser erkennt ihn am Gang und am Klang seiner Absätze und bittet ihn auf ein paar Worte. Er möchte unbedingt erfahren, was Ogilvy auf sein Schild geschrieben hat und ganz offenbar seinen unerwarteten Erfolg begründete. Ogilvy sagt, er habe die Botschaft nur vervollständigt und eine Geschichte daraus gemacht: „es ist Frühling und … Ich bin blind!“ <<
Das Ganze lässt sich mühelos aufblasen mit Bildern vom aufgerüschten Publikum in der ‚5th Avenue‘ über den ‚Madison Square Garden Park‘, die rahmengenähten ‚Alden‘ Pferdelederschuhe, den Kaffeebecher von ‚Starbucks’s‘, den ‚Edding‘-Marker und so weiter und so fort. Der eigentliche Unterschied passiert im Kopf des Lesenden, wo die knappe Story umgehend Bilder lostritt und aus einer nüchternen Information einen emotionalen Spielfilm anzettelt.
Immerhin hat auch Ogilvy später zugegeben, dass er die Geschichte selbst weder erlebt, noch erfunden hat, sondern dass er durch den amerikanischen Poeten David Kirby dazu inspiriert wurde und dessen Gedicht „On my Mother’s Blindness“ aus dem Jahr 1977. Kirby hingegen referenziert da den französischen Schriftsteller Jacques Prévert, der in einem Tagebucheintrag vom 22. Oktober 1953 notiert, wie er einem „blinden Mann ohne jede Unterstützung“ ein „der Frühling kommt, aber ich sehe ihn nicht“ andichtete. Klingt irgendwie romantischer. Wir Festlandeuropäer mögen das so. Und dabei mag ich es hier bewenden lassen, auch wenn ich mir gut vorstellen kann, dass selbst Prévert nicht der Erste in der Reihe war. Egal.
Inzwischen wurden natürlich mehrere Spots auf den Plot nachgedreht von internationalen Agenturen die alle ihre herausragenden, individuellen Fähigkeiten in der Disziplin des Geschichtenerzählens und Contentproducings unter Beweis stellen mochten und damit sogar jeder für sich noch große Auszeichnungen gewinnen konnten: Nick Galanides holte sich als Erster den ‚Cream Grand Prix‘ im Jahr 2004, Alonso Alvarez Barreda dann sogar den Werbe-Oskar, die goldene Palme von Cannes im Jahr 2008 und zuletzt die schottische Contentbude ‚Purple Feather‘, die sich übrigens allesamt nur nach sehr konkreten Nachfragen der vorangehenden Versionen entsinnen mochten und lieber mit fremden Furzen stinken gingen.
Die Menschen wollen offensichtlich hinters Licht geführt werden. Ist das schlimm? Nein, es gehört scheinbar zum Konzept.
Warum ich das hier alles erzähle? Ich habe Fragen:
Zum Beispiel, warum die erfolgverwöhnten Werbeprofis in all den Geschichten selbst keine einzige Münze beisteuern, um das Leben der Elenden zu lindern. Das hätte die Geschichte aus meiner Perspektive kaum verwässert. Statt eines beispielgebenden Handelns feiern sie alle ihre Cleverness und eine, zugegeben einst sehr originelle Idee, die in wenigen Monaten ihren siebzigsten Geburtstag feiert. Ausgerechnet die Videoleute hätten im Abspann ruhig noch auf adäquate Initiativen verlinken können in ihrer Gewissheit, dass die Dinger Reichweite bekommen und alle stramm viral gehen. Tue Gutes und rede darüber. Schade, Chancen vertan.
Was ich auch ziemlich seltsam finde ist, dass keiner die tatsächlichen Begebenheiten zu Ende erzählt. Denn natürlich steckt in jedem Märchen immer auch ein Funken Wahrheit:
Warum erfahren wir nicht, dass der Bettler ein blinder farbiger junger Mann war, der nach dieser besonderen Erfahrung mit dem neuen Schild als „Gamechanger“ eben nicht anfing im Täglichen zu prassen, sondern haushaltete und sich tapfer ein Instrument ersparte, auf dem er sich das virtuose Spiel selbst mühevoll erarbeitete, um über ein paar noch auszuschmückende Umwege zu einem internationalen Star heranzureifen und uns allen heute bekannt ist unter dem Namen ‚Stevie Wonder‘?
Stimmt nicht? Sagen wir: naja, vielleicht. Aber geht es denn wirklich darum? Die nun endlich vollständige „wahre Geschichte“ jedenfalls belegt, dass meine Agentur und meine Wenigkeit keine weitere Variante altbekannter Formate produzieren mögen, sondern lieber da anfangen, wo andere längst aufgehört haben.
Und wer den Rest der Geschichte hören will, oder als Unternehmer seine eigene Geschichte schreiben mag, der rufe mich gerne an: 0671.79083010
Ich freue mich.
Auf Keks und Kaffee.
Fragt nach Bruno.